Zum Opfer eines Verbrechens gemacht zu werden ist ein schreckliches Erlebnis – besonders, wenn man den Tätern vertraut und sie für Freunde gehalten hat. Aber wenn man mit dem Erlittenen von den Behörden alleingelassen und von der Umwelt auch noch verspottet wird, dann ist es nicht verwunderlich, wenn ein Mensch daran zerbricht.
Diesen furchtbaren Vertrauensbruch auf allen Ebenen musste jemand erleben, der obendrein noch im Teenageralter war – eine Zeit, in der wir uns vor allem darüber definieren, wie andere uns beurteilen und wie beliebt oder unbeliebt wir unter Gleichaltrigen sind.
Rehtaeh Parsons aus Dartmouth in der kanadischen Provinz Nova Scotia war erst 15 Jahre alt, als sie im November 2011 mit Freunden zu einer Party im Haus von Bekannten ging. Was an diesem Abend dort passierte, wird für viele Opfer sexueller Gewalt allzu schrecklich bekannt klingen. Rehtaeh erinnerte sich am nächsten Morgen, dass sie zu viel Alkohol getrunken hatte und irgendwann zusammengebrochen war. Während sie kaum noch bei Bewusstsein war, sich nicht wehren konnte und sich immer wieder übergeben musste, wurde sie dort von vier Jungen vergewaltigt. Einer der Täter machte während des Verbrechens Fotos von der Tat.
Rehtaeh war zu verstört und beschämt, um jemandem zu erzählen, was passiert war. Doch das übernahmen andere für sie. Der Junge, der während der Vergewaltigung fotografiert worden war, verschickte das Bild an seine Freunde und prahlte damit, dass er Sex mit Rehtaeh gehabt habe, während sie sich gerade übergab. Innerhalb weniger Tage hatte jeder in Rehtaehs Schule das Bild gesehen. Freunde und Bekannte wandten sich von der Jugendlichen ab, beschimpften sie als „Schlampe“ und „widerlich“.
Rehtaeh brach zusammen und erzählte ihren Eltern, was geschehen war. Diese erstatteten sofort Anzeige und brachten ihre Tochter ins Krankenhaus. Doch schnell mussten sie sehen, dass niemand ernsthaft daran interessiert war, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die örtliche Polizei befragte die genannten Jungen nicht einmal, ihre Smartphones wurden nicht untersucht und nach einem langen Jahr teilte man Rehtaeh und ihren Eltern mit, dass keine Beweise vorlägen und der Fall nicht weiter verfolgt werde. Auch das grausame Foto und seine Verbreitung seien kein krimineller Akt, obwohl Rehtaeh zum Zeitpunkt der Aufnahme erst 15 Jahre alt und damit minderjährig gewesen war.
Einer von Rehtaehs verbliebenen Freunden konfrontierte die Täter und wurde im Streit mit einem Messer verletzt. Er zeigte den Angriff an, aber auch dafür wurde nie jemand verhaftet.
Währenddessen war das Leben für Rehtaeh zur täglichen Hölle geworden. In der Schule und vor allem im Internet wurde sie von ihren Mitschülern jeden Tag beschimpft, ausgelacht und belästigt. Noch mehr als das Erlebte selbst schmerzten sie die gleichgültigen und verächtlichen Reaktionen ihrer Umwelt. Sie zog sich immer weiter zurück und wurde schwer depressiv.
Die pausenlosen Demütigungen und das Bewusstsein, dass keiner der Lehrer oder Polizisten ihr helfen würde, wurden unerträglich für die junge Frau. 17 Monate nach dem Verbrechen hatte sie alle Hoffnung verloren und versuchte, sich zu erhängen. Zwar wurde sie noch lebend gefunden und ins Krankenhaus gebracht, aber sie war so schwer verletzt, dass sie in ein Koma fiel. Ihre Eltern wussten, dass der Schaden an ihrem Hirn so schlimm war, dass sie wohl nie mehr erwachen würde. Am 7. April 2013 ließen sie die lebenserhaltenden Maschinen abschalten. Rehtaeh war tot.
Die verzweifelten Eltern versuchten erneut, Gerechtigkeit für ihr Kind zu bekommen, aber für die Behörden war der Fall abgeschlossen. Erst als sie Rehtaehs Geschichte über das Internet erzählen, tut sich endlich etwas: Als anonyme Hacker nämlich damit drohen, die Identitäten der Täter vor aller Welt zu veröffentlichen, wird eine neue Untersuchung angestrengt.
Plötzlich ist es möglich, zwei der Täter zügig zumindest wegen der Verbreitung von Kinderpornografie vor Gericht zu bringen, aber trotzdem muss keiner von ihnen ins Gefängnis. Sie bekennen sich schuldig und bekommen beide 12 Monate auf Bewährung. Da sie zum Zeitpunkt der Tat minderjährig waren, werden sie nicht als vorbestraft geführt und kein potenzieller Arbeitgeber wird erfahren, was sie getan haben.
Der Junge, der das Foto als Erster verschickt hat, sagte nach dem Urteil, er sei nicht für Rehtaehs Selbstmord verantwortlich und durch den Prozess sei er jetzt selbst das Opfer von Mobbing geworden, was er als ein „lebenslängliches Urteil“ empfindet.
Um endlich gerichtlich gegen Quälereien im Internet vorgehen zu können, wurde im August 2013 in Nova Scotia ein Gesetz verabschiedet, das es den Opfern ermöglicht, die sogenannten „Cyber-Bullies“ zu verklagen.
Ein schwacher Trost für Rehtaehs Familie, aber hoffentlich wird es wenigstens zukünftigen Opfern dieser gedankenlosen Grausamkeiten helfen können, sich besser zu wehren, als Rehtaeh es konnte. Denn kein Mensch sollte auch noch dafür verspottet werden, dass jemand ein Verbrechen gegen ihn begangen hat.